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Fakultät für Biologie, Chemie und Geowissenschaften

Lehrstuhl für Sozial- und Bevölkerungsgeographie – Prof. Dr. Eberhard Rothfuß

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Aktuelles Forschungsprojekt

Wanderer über Nebelmeer

Im Team: Prof. Dr. Eberhard Rothfuß, MA. Lukas Pieroth, Dr. Thomas Dörfler 

Das Forschungsprojekt ANTHRO(TO)POS hat seinen Ausgangspunkt in der Feststellung, dass das bislang vorherrschende Raumverständnis der Humangeographie unzureichend ist, um das komplexe Mensch-Umwelt-Verhältnis oder die “Mensch-Umwelt-Verschränkung” (M. Scheler) und damit die alltäglichen Raumerfahrungen menschlicher Subjekte in ihrer physisch-materiellen wie auch anthropologischen Dimension angemessen erfassen zu können. "Die heute vielgebrauchte Rede ›der Mensch hat seine Umwelt‹ sagt ontologisch so lange nichts, als dieses ›Haben‹ unbestimmt bleibt. Aber was ist mit dem »Umhaften der Umwelt« gemeint?" (Sloterdijk, 2001, S. 398). Wir möchten in diesem humangeographischen Forschungszusammenhang die anthropologisch-physische (oder: “natürlich-künstliche”) Conditio humana in das Zentrum der empirischen, konzeptionellen und theoretischen Perspektive rücken. Mit physisch-materiell meinen wir hier die vermittelte, reflexive und ex-zentrische Position, die sich aus angeeigneter Welt durch das Kulturwesen Mensch ergibt. Wir verlassen uns dabei auf die These der akzidentiellen Substantialität (H. Plessner), die sich als konkret Erfahrbares notwendig aus dem ‘Umgang’ des Menschen mit der (Lebens-)Welt und seinesgleichen ergibt (etwa Architektur, Natur, Andere usf.) und möchten so die Philosophischen Anthropologie aber auch phänomenologisches Denken nachhaltig an humangeographische Grundfragen anbinden und für neuartige Forschungs-zusammenhänge (z.B. mit der Physiogeographie und Didaktik der Geographie) anschlußfähig machen.

Einzelprojekte:

  • Individuum est ineffabile & homo absconditus – Wie lassen sich anthropologisch phänomenologische Geographien im 21. Jahrhundert denken? (Dissertationsprojekt - Lukas Pieroth, MA)
  • Methodologien und Methoden zum ANTHRO(TO)POS (Habilitationsprojekt – Dr. Thomas Dörfler)
  • ANTHRO(TO)POS - Grundlegung einer philosophisch-anthropologischen Mensch-Umwelt-Geographie (Prof. Dr. Eberhard Rothfuß)

Substanziell wird diese Erfahrung durch die Widerständigkeit der Welt, d.h. durch ihre eigene materielle (Räumlichkeit, Substanzhaftigkeit, Gegenständlichkeit, Organizität etc.) wie psychisch-soziale Existenz (andere Anwesenheiten). Dieses Verhältnis, diese Verschränkung, ist allerdings nicht dichotomisch zu denken, sondern in seiner je eigenen, auf sich gegenseitig beziehenden (Natur-)Dialektik: keine Anwesenheit anderer Subjekte ohne deren körper-leibliche Materie und v.a. Präsenz, keine Naturerfahrung ohne Subjekt.

„Eine Disziplin, […] die den Menschen aus dem Gegensatz zur Welt der Gegenstände begreift, verfehlt die innere Einheit der Welt, zu der der Mensch auch gehört. Sie wird eine Kluft zwischen Natur und Geist aufreißen und die spezifisch menschliche Weise des In-Seins, die sich in der Sinngebung als synthetischer Leistung bekundet, subjektivieren” (Holz, 2003, S. 74).

„Spielarten des Strukturalismus und Konstruktivismus überbewerten die “geistige Dimension” (Syntax, Semiotik, Differenz, Sprache, gesellschaftliche Konstruktion etc.). Doch der Mensch gibt sich nicht nur als ein “geistig-sittlich-kulturelles”, sondern ganz besonders gleichzeitig auch als ein “organisch-sinnlich-natürliches” Lebewesen. Man kann diese doppelaspektive Lebensweise nicht zur einen oder anderen Seite hin auflösen oder einen dieser Aspekte auf den anderen reduzieren. Der Mensch lebt im psycho-physischen Konflikt, der psycho-physische Konflikt ist die Mitte der menschlichen Existenz“ (Plessner, 1928, S. 317).

„Der Mensch existiert zuerst und schafft dann sein kontingentes Wesen – Der Mensch kann (fast) alles sein. “Mit einem Wort, der Mensch muß sich sein eigenes Wesen schaffen; indem er sich in die Welt wirft, in ihr leidet, in ihr kämpft, definiert er sich allmählich; und die Definition bleibt immer offen; man kann nicht sagen, was ein bestimmter Mensch ist, bevor er nicht gestorben ist, oder was die Menschheit ist, bevor sie nicht verschwunden ist” (Sartre, 2016, S. 116).                                             

Dies ergibt weitreichende Konsequenzen für die kulturell-sozialen Konstruktionsleistungen des Menschen, mit denen er sich auf diesem Planeten einrichtet: keine Konstruktion ohne (materielle, dingliche, weltliche) Erfahrungsdimension, keine symbolische Abstraktion ohne realweltlichen Hintergrund. Diese Bezüge, meinen wir, müssen vor allem in ihrem vorsprachlichen Erwerb ins Zentrum der Analyse geholt werden und nicht erst nach deren sprachlicher Kulturalisierung, um ihre leibliche Grundlage als ‘Ursache’ des Wissens von der Welt zu erkennen: der Körper-Leib als Fundament unseres Weltwissens und seiner Abstraktionen davon.

Mit dieser Positionierung hoffen wir, einige Sackgassen zu umgehen, in die sich Teile der Humangeographie ‚hineinmanövriert‘ haben. Gemeint ist damit einerseits das quasi dogmatisch vorherrschende – teils vulgäre – (sozial-)konstruktivistische Paradigma, demnach Welt einzig und allein aus den Konstruktionen und Zuschreibungen menschlicher Akteure - wahlweise auch Diskurse - bestünde. Dieses Dogma ignoriert, dass es Welterwerb jenseits von Symbolisierungen und Diskursivierungen gibt, was insbesondere für die Geographie große Folgen hat: Lehrbücher belehren uns derzeit in diesem Sinne, dass es kein ‘absolutes’ - wahlweise ‘essentielles’ - Wissen von der Welt gibt, sondern nur ein je relatives, symbolisch und kulturell konstruiertes: den einen beliebt es so, die Welt zu sehen, anderen anders: Der Kontingenzbegriff wird hypostasiert und überstrapaziert.

Jenseits der Banalität, dass Wissen von der Welt immer perspektivisch ist, verleugnet diese Position aber, wie erstens in der sozio-kulturellen Konstruktionsleistung Objektives der Welt erkannt wird (sonst könnten wir nicht Kommunizieren und Handeln) und zwar in der Typik der Objektwelt (Husserl, MMP) ebenso wie in der Du-Erfahrung (Schütz) des anderen, was etwa zum Erkennen der Objektpermanenz führt (Piaget), ohne die keinerlei kognitive Entwicklung des Menschen möglich wäre. Ein weiteres schlagendes Beispiel ist die Tatsache, dass die Fähigkeit des “Konstruierens” selbst erst in triadischer Interaktion erlernt werden muss bzw. die Konstruktionsfähigkeit des Menschen selbst nicht wieder konstruiert werden kann. Der Mensch wird am Du zum Ich (Martin Buber) und kann nicht anders als durch gemeinsames Lernen eine ganze real gegebene Welt (zunächst) zu entdecken und zu erfahren – bevor er handelnd, wirkend und konstruierend in sie eingreift. 

Zweitens beruht deswegen gerade Welterfahrung als Erfahrung ihrer Dimensionalität wie auch ihrer Sozialität auf bestimmten grundsätzlichen Fähigkeiten des Menschen, ohne die keine Kulturleistung als ‘Überbau’ möglich ist: auf der anthropologischen Ausstattung des Menschen (Plessner, Gehlen), die eine biologische Bedingung sine qua non darstellt, aber gleichzeitig durch ihre kulturelle Mangelhaftigkeit die Notwendigkeit des Gesellschaftlichen erzwingt, will der Mensch eine Lebensform aufbauen. 

Gegen diese Vereinseitigungen und ihre Widersprüche richtet sich eine unserer Argumentationslinien. Wir glauben, dass es deswegen notwendig geworden ist, den Diskurs der Humangeographie mit neuen Perspektiven zu bereichern, die solche Sackgassen vermeiden können: (Neo-)Phänomenologie und Philosophische Anthropologie bieten sich an, durch ihre jeweilige spezifische dialektische Denkfiguren und Theoriebildung, nicht in die binäre Verabsolutierung z.B. des ‘reinen’ kulturellen Konstruktivismus abzudriften.

Wir möchten damit eine doppelt realistische Perspektive eröffnen, um das Räumliche - den Raum und seine Manifestationen - in seinen dem Menschen gegebenen wie nur möglichen Erfahrungsdimensionen zu untersuchen: es gibt keinen Raum ohne Mensch, und kein Mensch existiert ohne Raum. Dieser doppelte Realismus speist sich aus dem Untergrund, dass nur dialektische und nicht oberflächlich-konstruktivistische Ansätze die Komplexität dieser Beziehung in den Blick bekommen. Realistisch daran ist zum einen der Blick auf die natürliche Ausstattung des Menschen sowie auf die Ontologie seiner Umgebungen, und zum anderen der Bezug auf den Menschen mit seiner ihm nur möglichen leiblichen und darauf aufbauenden kognitiven Adaption der Welt.  Daran schließt sich die Überführung von singulärer Erfahrung in Kultur an (Dux 2001), die Gesellschaft ausmacht. Singuläre Erfahrung wiederum erfährt dabei bereits Objektives der Welt als Widerständigkeit, wie auch den »generalisierten Anderen« (Mead, Schütz), d.h. den in Dingen, Personen, Begriffen u.a. bereits aufgehobenen gesellschaftlichen Deutungszusammenhang des Weltausschnittes.

Dieser radikal anmutende, im Grunde jedoch abgeklärt-rationale Schritt nach eingängiger Kritik vorherrschender Theorieangebote impliziert daher grundlagenbezogene Theoriearbeit ebenso wie die Erarbeitung neuer bzw. angepaßter Methodologien für eine empirische Bearbeitung. 


  • Gefördert durch: 
  • Laufzeit des Projektes 


Verantwortlich für die Redaktion: Tanja Märkisch

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