Druckansicht der Internetadresse:

Fakultät für Biologie, Chemie und Geowissenschaften

Lehrstuhl für Sozial- und Bevölkerungsgeographie – Prof. Dr. Eberhard Rothfuß

Seite drucken

News

zur Übersicht


Gründung eines VGDH-Arbeitskreises »Raumphänomenologie«

22.09.2023

»Der Geometriker (Physiker) oder der Konstruktivist (Strukturalist) “[…] ist kein
Phänomenologe, die phänomenologische Lehre von Orientierung, Tiefe und Entfernung im
Erscheinungsfeld ist keine analytische Konsequenz, sondern eine subjektive Ergänzung
bzw. transzendentale Fundierung der geometrischen Lehre vom dreidimensionalen
Raum« (Bernet et al., 1996, S. 116)
.

Der Mensch ist der erste Freigelassene der Natur; er ist von Natur aus zur Freiheit
organisiert (nach J. G. Herder).


»Phänomenologie ist eine elastische Methode der Beschreibung« (Blumenberg, 2018, S.
12).

Am Freitag, den 22. September 2023, traf sich am Rande des DKG 23 eine Gruppe
Interessierter, um über Perspektiven eines neuen Arbeitskreises im Verband für
Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH) zu
beraten. Geeint in der Überzeugung, dass phänomenologische Zugänge und ähnliche
Theorieangebote wie die Philosophische Anthropologie oder die Hermeneutik, ebenso
wie Dialektik und Naturphilosophie in der deutschsprachigen Humangeographie bis heute
kaum eine Rolle spielen, wurde diskutiert, wie man dieser Lücke begegnen könne. Es war
Konsens, dass es notwendig sei, einen neuen Diskussions-, Arbeits- und
Forschungszusammenhang zu etablieren, um ähnlich gelagerte Erkenntnisinteressen zu
bündeln und sichtbar zu machen. Inhaltliche und konzeptionelle Schwerpunkte, denen
sich dieser Arbeitskreis widmen könnte, wurden wie folgt diskutiert:
Ein Arbeitskreis Raumphänomenologie böte die Möglichkeit, den Abstand zwischen
Physischer Geographie und Humangeographie ein Stück weit zu mindern, indem mit
den genannten Theorieangeboten genau an der Schnittstelle zwischen Mensch und
Natur(raum) operiert werden kann: Phänomenologie als derjenige Zugang, der Natur und
Materialität ebenso in den Blick bekommen kann, wie das Soziale und seine kulturellgeistigen
Prägungen. Dabei kann die Phänomenologie dazu beitragen, etwaigen
Cartesianismen (nicht nur) in der Geographie zu begegnen: Dualismen wie die Trennung
von Substanz und Akzidenz, Geist und Körper, oder Ich und Welt sind auf diese Weise
entfundamentalisierbar bzw. dialektisch zu bearbeiten, ohne deren Unterschiede zu
leugnen.
Ähnliches läßt sich von der Philosophischen Anthropologie sagen: Welt und Mensch
(Bewusstsein, Leibkörper, Dasein) sind komplementär; Welt und Selbst besitzen eine
Gleichursprünglichkeit, die freilich ein Werden ist, sie sind aber unzertrennlich: keine Welt
ohne Selbst, kein Selbst ohne Welt. Weder Geist (Sprache) noch Materie (Natur) hat einen
Vorrang – sondern es zählt die physio-psychische Realität des lebendigen Menschen, der
wiederum dialektisch nicht nur eines von beiden ist, sondern als leibliches Subjekt genau
seine Vermittlung als sein irdisches Dasein. Damit aber hat der Mensch auch immer einen
Raum, denn ohne ihn gibt es kein Sein.
Leib heißt in der Ausdeutung einer nicht-metaphysischen, d.h. plessnerianischen
Philosophischen Anthropologie, sich der konstitutiven »Exzentrischen Positionalität« des
Menschen bewusst zu werden (Geist), weil man einen (wirkmächtigen) Körper hat, und
sich aus dieser Erfahrungspotentialität das spezifische menschliche Bewusstsein über
diese besondere Lage ableitet. Das Verhältnis des Menschen zur Welt, vom Leibkörper
zur Umwelt, wird derart zum Schlüssel einer anthropologischen Geographie.
Gleichermaßen bedeutsam für Spielarten der Phänomenologie und der Philosophischen
Anthropologie ist es, ausgehend von den Strukturen der Erfahrung (im Sinne eines
Wahrnehmungsrealismus) ein methodisch voraussetzungsloses (d.h. vorurteilsfreies und
urteilverzichtendes, ‘unpolitisiertes’) Verstehen zu forcieren. »Raum« und »Natur« sind
nicht bloß physikalistisch-naturalistisch (reell) oder kulturalistisch-semiotisch (ideel), also
in der ein oder anderen Form reduktiv zu fassen, sondern in ihrer perspektivischen und
intentionalen Ganzheit – als noetisch-noematische Struktur – zu begreifen. Es geht hier
somit darum, Cartesianismen und Dichotomien – hier Logizismus, dort Psychologismus;
hier Realität, dort Idealität – jeglicher Couleur zu vermeiden und einen dritten Weg
einzuschlagen: Nämlich den der systematischen und methodisch geleiteten Rückbindung
des Objektiven an ein urteilendes und erkennendes Subjekt (Mayer 2007). Im Falle der
sozio-materiellen Atmosphären kommt dieser Doppelcharakter besonders zum
Ausdruck und wird bereits von einigen konzeptionell und empirisch bearbeitet.
Der Raum der nicht-euklidischen Geometrie ist somit als objektives Korrelat genauso
legitim wie der Raum als Phänomen des Klanges, der Ruhe, der Andacht, des Exzesses,
des Wohnens, des Verkehrs, der Flora usw. Es ist phänomenologisch betrachtet
indifferent, ob der intendierte Raum - als intentionales Objekt - real, ideal, empirisch,
materiell, fingiert, halluziniert, erinnert, absurd, symbolisch, zukünftig, vergangen, existent,
mental, imaginiert usw. ist. Bedeutsam ist, dass man sich sehr verschiedenartig und
perspektivisch (intentionale subjektive Akte) auf Raum (intentionales Objekt) beziehen
kann – egal ob der Raum nun wirk-lich (wirkend) gegeben oder bloß vermeint ist (Zahavi,
2008). Intentionalität ist eine intrinsische Eigenschaft des menschlichen Bewusstseins.
Bewusstsein ist nicht Geber, nicht Konstrukteur der Welt, nicht Fakultät des Entwerfens
und Beherrschens, sondern vielmehr ein »Vermögen des Vernehmens« (L. Landgrebe) von
unmittelbarer Welt und also auch des Raumes.
Mit der Gründung eines Arbeitskreises, der derartige Diskussionsstränge verfolgen will,
soll u.a. versucht werden, die nach wie vor einseitig dominierenden Paradigmen des
Sozial- und Diskurs-Konstruktivismus herauszufordern (Lingozentrismus,
Performativitätstheorien, neuerdings Posthumanismus, u.a.) und zu einem neuen
Realismus in der wissenschaftlichen Beschreibung und Erklärung von
Weltzusammenhängen zu gelangen. Ganz grundlegend muss dafür auch in den Blick
genommen werden, was die Kategorie »Mensch« für die Humangeographie konzeptionell
meint, mit welchen Theorien also das Humane – der Anthropos – konzipiert wird, um
seine Stellung in der Welt, Mit- und Umwelt zu thematisieren. Hier ist basale Definitionsund
Begriffsarbeit für die Humangeographie vonnöten, um theoretische sowie
methodische Werkzeuge zur (empirischen) Analyse zu entwickeln.
Als ein wichtiger Schwerpunkt wurde ebenso markiert, etwa durch Metaphorologien (z.B.
H. Blumenberg) oder Leibphänomenologien das Problem der Vorbegrifflichkeit in den
Blick zu bekommen, dass also die Welterfahrung des Menschen in wesentlichen
Dimensionen vorsprachlich vonstatten geht, statt diskursiv. Nicht nur hierfür wird es nötig
sein, entsprechende konzeptionelle Zugänge und Methodologien zu entwickeln.
Ein AK Raumphänomenologie bietet auch die Möglichkeit, die Didaktik der Geographie
als Vermittlung von Raumerfahrungen stärker zu positionieren. Didaktik ist gerade im
phänomenologischen Verständnis alles andere als bloße Methodik. Didaktik vermittelt
eine Haltung, wie man an die Gegenstände dieser Welt herangeht. Ihr kommt damit eine
zentrale Rolle beim Verständnis geographischer Inhalte und Weltzugänge zu.
Nicht zuletzt wurde die Notwendigkeit einer phänomenologischen Perspektive auf die
allgegenwärtige Digitalisierung mit ihren Chancen wie Risiken geographischer
Welterfahrung und -beschreibung in Frankfurt thematisiert. Welchen Gehalt, welche
Dimensionalität hat digitales räumliches Wissen und wie kann man dies kritisch
vermitteln? Welche Verkürzungen des räumlichen Wissens drohen mit digitalen Medien,
welche ermöglichen sie? Dies wären Fragen, die hier zu adressieren sind.


Um diesen aufgeworfenen konzeptionellen Herausforderungen geographischen Arbeitens
zu begegnen, wollen wir einen ersten Workshop an der Universität Würzburg vom 21.2.
bis 23.2.2024 durchführen
, der gleichzeitig als offizieller Gründungsakt des AK
Raumphänomenologie fungieren soll. Thematisch ist dieser offen gehalten, um eine
möglichst große Bandbreite an Themen im obigen Sinne zu gewährleisten.
Zu diesem Treffen laden wir alle Interessierten sehr herzlich ein, entweder mit
diskussionsfreudiger Anwesenheit teilzunehmen und/oder einen eigenen Beitrag
beizusteuern.

Wir freuen uns über abstracts bis zum 31.12.2023 unter der digitalen
Adresse:
sozialgeographie@uni-bayreuth.de


Thomas Dörfler (thomas.doerfler@uni-jena.de)
Lukas Pieroth (lukas.pieroth@uni-bayreuth.de)
Eberhard Rothfuß (eberhard.rothfuss@uni-bayreuth.de)

Facebook Twitter Youtube-Kanal Instagram UBT-A Kontakt